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Ein wissenschaftlicher Vortrag


Der Höhrsaal der wissenschaftlichen Fakultät in der rue de Tolbiac ist kalt und leer. Vorne am Pult ordnet Maryam die letzten Papiere und überprüft die Funktionen des Projektors. Sie trägt einen langen, hellgrauen Mantel und dazu ein weinrotes Kopftuch. Ihr blasses Gesicht lässt keinerlei Regung erkennen. Was sie wohl fühlt? Gleich wird sie den Vortrag zu ihrer Doktorarbeit über Lasertechnik halten und einige der Jurymitglieder sind extra aus Australien angereist. Wenn ich selbst dort am Pult stehen müsste, wäre ich schon längst gestorben.

Wegen der Australier wird Maryam bei ihrem Vortrag Englisch sprechen. Ich verstehe nichts von Laserphysik und dann noch auf Englisch, da kommen eher noch Unklarheiten hinzu, als dass sie beseitigt werden. Siavosh scheint interessiert, zumindest betrachtet er aufmerksam die geheimnisvollen Symbole, die der Projektor an die Wand wirft, während sich meine Gedanken in der Metallstruktur der Trägerbalken unter der Decke verlieren.

Vor uns unterhält sich Maryams tunesische Kollegin mit einem anderen Mädchen, das ich nicht kenne, hinter uns ducken sich Mostapha und Farhad in ihrer Bank wie zwei Soldaten im Schützengraben. Sie erwecken dabei nicht wirklich den Eindruck, als ob sie das Thema des Vortrags besonders interessiert, ich bin ein bisschen erstaunt, dass sie bekommen sind, vor allem, da sich Mostapha und Maryam in letzter Zeit nicht gut verstehen, wie sie mir erklärt hat. Sowieso hatte ich nie das Gefühl, dass sich Mostapha besonders für seine Frau interessiert und was sie sonst noch so macht.

Als ich Siavosh erkläre, dass Maryam mit diesem untersetzten, stoppelhaarigen Greis verheiratet ist, der dreissig Jahre älter ist als sie, macht dieser zunächst ein Gesicht, als sei irgendwo hinten im Saal ein Geist aus einer der Fiolen entwichen, die dort im Regal stehen. Ich hätte vielleicht vorher etwas sagen sollen, aber ich hatte überhaupt nicht mit der Anwesenheit dieses Menschen hier gerechnet. Es ist sehr praktisch, dass Mostapha kein Persisch versteht, so kann ich Siavosh in Ruhe alles erklären, was er wissen muss.

Maryams Mutter und ihr Bruder sitzen am entgegengesetzten Ende des Saals und werfen uns und den übrigen Anwesenden ab und zu misstrauische Blicke zu. Beide sind sehr blass und wirken so, als ob sie sich hier nicht wohlfühlen, angeblich hat Maryams Mutter auch psychische Probleme.

Als Maryam mit ihrem Vortrag beginnt wird selbst Menschen mit geringen Kentnissen in Englisch und Laserphysik bewusst, dass sie ihr Thema bis ins kleinste Detail kennen muss, so selbstverständlich erklärt sie die komplizierten Vorgänge an der Tafel, fast möchte man sagen, die Ziffern und Formeln werden dort lebendig und formen ein klares und überschaubares Bild.

Am Ende gratulieren ihr die Jurymitglieder insbesondere zu ihrem pädagogischen Talent, allerdings klingt das alles ein bisschen hohl und nichtssagend. Jeder im Raum weiss genau, dass Maryam nie an einer Universität oder einer Hochschule unterrichten wird, wegen ihres Kopftuchs.

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